Authentizität

Seit 2010 macht Laura Viviana Teichmann alias „lavite-machine“ ihr Kunstprojekt „Meine Philosophie: Authentizität“ der Öffentlichkeit zugänglich. Ihr Wunschergebnis: Die Wechselwirkung zwischen ihr, der Künstlerin, und uns, den Rezipienten, ist der Weg hin zu Authentizität und das Erreichen von Authentizität. Ihre künstlerischen Mittel sind die Malerei, das Texten, die Fotografie sowie die Video- und Aktionskunst.

Was ist Authentizität?
Echtheit – und Ursprünglichkeit?
Glaubwürdigkeit – Vertrauenswürdigkeit, Glaubhaftigkeit und Pflichtbewusstsein?
Sicherheit – Gesichertheit, Gewährleistetsein, Geborgenheit, Schutz, Selbstbewusstsein und Weltgewandtheit?
Verlässlichkeit?
Wahrheit – Gotteseigenschaft?
Zuverlässigkeit?

Woher kommt das Wort Authentizität?
In Dudens etymologischem Wörterbuch ist authentisch „(nach einem sicheren Gewährsmann) glaubwürdig und zuverlässig verbürgt; echt“: das Wort wurde ursprünglich in der Kanzleisprache des 16. Jahrhunderts aus dem spätlateinischen authenticus „zuverlässig verbürgt; urschriftlich, eigenhändig (von Schriften)“ entlehnt, das seinerseits aus dem griechischen authentikós „zuverlässig verbürgt“ stammt, das zu griechisch auth-éntes „Urheber, Ausführer“gehört (ursprünglich vielleicht „jemand, der mit eigener Hand etwas vollbringt oder schreibt“).

Dann habe ich mich gefragt, seit wann, und wegen Teichmanns Kunstprojekt, ganz besonders in der Philosophie, Authentizität als Begriff bekannt ist und fand die begriffliche Beschreibung schon in der Antike bei Aristoteles und Platon. Sokrates dagegen verkörperte bereits die Authentizität, war sozusagen exemplarisch authentisch.

Der französische Philosoph und Mathematiker René Descartes, von ihm stammt das berühmte Dictum „Ich denke, also bin ich“, vertrat die These, dass das Selbstdenken vor tradierten Lehren stehe und für den englischen Philosophen John Locke kam die Person, das Individuum vor gesellschaftlicher Inpflichtnahme.

Anfang des 20. Jahrhunderts vertrat im Bereich der Ästhetik der amerikanische Schriftsteller und Literaturkritiker Lionel Trilling die These, die Kunst sei nicht mehr als korrekte Befolgung eines Regelkanons zu verstehen, sondern als Mittel zur Selbsterkundung.
Im Existenzialismus spielt der Begriff der „Eigentlichkeit“ eine wichtige Rolle und in der Existenzphilosophie beschreibt Jean Paul Sartre zwei authentische Haltungen: (Zitat) „Die, durch die ich den Anderen als Subjekt anerkenne, durch das ich zur Objektheit komme – das ist die Scham! Und die, durch die ich mich als freien Entwurf erfasse, durch den der Andere zum Anders-sein kommt – das ist der Hochmut!“ „Aber der Stolz oder die Eitelkeit ist ein labiles unaufrichtiges Gefühl“, schreibt er. Sartre unterscheidet zwischen Unaufrichtigkeit und Authentizität. Der Unaufrichtigkeit stellt er als Antithese die Ehrlichkeit entgegen, das „Seinsideal“, das der Mensch nicht erreichen könne.

In der Spätmoderne plädiert Michel Foucault für eine Vielfalt von Formen und Praktiken der Selbstbeziehung und des Selbstentwurfs. Er nimmt Bezug auf Sartres Forderung, dass wir „wirklich und wahrhaftig wir selbst sein müssen“. Sartre habe nur zwei Formen unterschieden: Authentizität im Sinne moralischer „Aufrichtigkeit“ oder Nichtauthentizität, die Unaufrichtigkeit.
Foucault schlägt eine umgekehrte Perspektive vor, (Zitat) „die Art Beziehung, die man zu sich selbst hat als kreative Aktivität aufzufassen, die den Kern seiner ethischen Aktivität ausmacht.“ – „Aus dem Gedanken, dass uns das Selbst nicht gegeben ist, kann nur eine praktische Konsequenz gezogen werden: wir müssen uns wie ein Kunstwerk begründen, herstellen und anordnen.“ schreibt er.

Da ich als bildende Künstlerin eingeladen bin, frage ich mich, was eigentlich das Authentische an meiner Arbeit ist. Handle ich nach meinen eigenen Werten, auch wenn ich mir dadurch vielleicht Nachteile einhandle oder bin ich ein Opportunist? Ist die Kunst ehrlich? Ist die Kunst echt? Ist die Kunst künstlich? Ist jeder Künstler authentisch? Reicht eine authentische Geste aus, um Kunst werden, um Kunst zu sein?

Laura Viviana Teichmann hat eine ganz eigene Interpretation des Begriffes Authentizität. Wo drückt sich ihre Authentizität aus? Wo findet sie statt? Sie schreibt und lässt schreiben: Authentizität, Authentizität, Authentizität, Authentizität, Authentizität, Authentizität, Authentizität, Authentizität, Authentizität...
Das ist sehr ursprünglich, jemand, der mit eigener Hand etwas vollbringt. Es wird das Wort. Sie spielt damit. Es wird zu einer anderen Dimension, es wird zu einem Mantra, es wird zu Material.

Wenn ich an Authentizität denke, denke ich an Positives. Authentizität ist gut.
Aber wenn Authentizität auch das Böse, das Kaputte, das Kranke, die Gier nach Macht, die Lust auf Gewalt einschließt?

Während Nan Goldin’s Fotografien von sich selbst und ihren Freunden, die sie in allen Lebenssituationen fotografiert hat, handeln und voll des Lebens und des Sterbens sind, von Aids und Drogen, Liebe, Freundschaft und Sex erzählen, und sich Cindy Sherman durch ihre Selbstinszenierungen stets als eine andere Person in den Bildmittelpunkt setzt, zeichnen sich Teichmanns Fotos durch die fast totale Abwesenheit von Lebendigem aus.
Ihre Fotos sind ein anderes Universum, sind statisch, symmetrisch, manchmal auf den Kopf gestellt, wie die zeigerlose Uhr. Sie sind schief, schräg, unscharf. Sie fotografiert betonierte Unterführungen, Betonpfeiler, Lichtleisten, leere Autos in der Nacht. Menschenleer, aber von Menschen gemacht.

Ein Foto zeigt leere Gleise und Bahnsteige, die Beleuchtung ist orangefarben und gibt dem Bild Wärme. Im Vordergrund steht schwarz und dunkel, quasi als Betrachter der Szenerie, die Signaltafel. Ein schwarzes Gebirge und der dunkellilafarbene Himmel schließen das Bild ab. Bei genauerer Betrachtung und erst nachdem man sich den Lampen und leeren Bänken gewidmet hat, entdeckt man einen einsam Dastehenden und dann plötzlich noch zwei weitere Menschen, einer kniet am Boden, der andere beugt sich leicht zu ihm hinunter. Und diese beiden rühren mich plötzlich an. Was tun sie da? Sind das Freunde oder ist der eine Schuhputzer oder bettelt er? Wie spät ist es eigentlich? Ist es schon Nacht oder doch erst Winternachmittag? Das ist aber kein ertragreicher Ort zum Schuhe putzen oder Betteln, also sind das doch eher Freunde? Oder Feinde? Aber sie sind anscheinend nicht laut, denn die einzelne Person auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig steht still und starr und schaut hinüber, reagiert aber nicht. Wahrscheinlich sind diese Menschen zufällig in dem Bild. Laura Viviana Teichmann wählt vielleicht Orte und Szenen aus, die gerade keine Menschen zeigen, Orte der Dunkelheit, der Nacht, der Einsamkeit. Was will sie zeigen? Was dokumentieren? Ist das die authentische Welt – so menschenleer? Braucht eine menschenleere Welt Authentizität?

Teichmanns Fotografien leben von Leuchten und Laternen und deren Lichtsetzungen. Sie sucht Ausschnitte mit besonderen Lichtreflexionen, die dem Bild Bewegung und Farbe geben. Sie fotografiert geflieste Decken, die die Nacht erstrahlen lassen. Was ist oben und was ist unten? Stehen oder hängen die Lampen? Sehr ästhetisch, sehr schön sind diese Fotos und erst das letzte aus einer Serie von drei Bildern zeigt den ganzen nächtlichen und menschenleeren Bahnhof. Doch nein, ein dunkel gekleideter, stehender Unterkörper ist in der menschenleeren Szenerie unter zig strahlenden Leuchten und Reflektionen auszumachen. Auf einem anderen Bild verschwindet eine dunkle Person auf einer Rolltreppe in die Höhe, ins gleißende Licht.

„Wer ein Zeichen setzt, macht sich selbst auf den Weg“ schreibt Laura Viviana Teichmann auf ihrer Website. Zu sehen ist eine Fotografie mit dem Titel „aufgang“. Aufgang ist klein geschrieben. Ja, es geht hinauf. Von einer Ebene kommend sieht man durch eine, durch einen schwarzen Balken geteilte, ja, was eigentlich? Eine Treppe, eine Rutsche? Höher gelegen dann der glatte Fußboden mit sechs seitlichen Türen zwischen gelben Fliesen und ganz weit hinten eine einzelne, graue Tür im rechten Bildteil zwischen gelben Fliesen. Die Decke drückt dunkel und betoniert auf die gelbliche Szene. Unter den Türen quillt Licht hervor. Aber nichts stimmt in diesem schönen, malerisch wirkenden Bild. Dann erst erkennt man: Das Fotos steht auf dem Kopf. Wie die Uhr, wie die Zeit, wie die Gesellschaft, wie die Welt, wie die Menschheit?

Mit ihren Fotos zeigt Laura Teichmann ein gesellschaftliches Bild. Eine Architektur der Einsamkeit, der Leere, der Nacht. Wer will überhaupt noch irgendwohin? Jeder nur noch zu sich nach Hause? Mit sich selbst sein, alleine, zurückgezogen in den eigenen vier Wänden? Gibt es dort eine Sicherheit und Geborgenheit? Wahrheit? Verlässlichkeit? Schutz?

Doch endlich, es ist Tag, es ist Sommer, die Sonne scheint, eine runde Backsteinwand, rot, grünes Unkraut zwischen den Steinen, eine rote Bank, nein, zwei halbe rote Bänke, leer. Und wenn dort zwei säßen, mit den Rücken angelehnt, könnten sie sich nicht sehen, sich nicht in die Augen schauen. Sie müssten ihre Köpfe, ihre Körper drehen, sie müssten aufeinander zugehen, sie müssten aktiv werden um miteinander in Kontakt zu kommen. Aber es ist ja niemand da. Auf dem nächsten Foto hat ein Arbeiter seine Leiter vor einer Fassade im ersten Stockwerk zurückgelassen, der andere Krempel steht noch da. Er ist weg, zur Pause oder abgestürzt auf die Straße, schon tot vielleicht? Schon begraben? Buchstaben kleben am Fenster hinter seiner Leiter, STUTTGARTS KINO JETZT PROJEKTION und im rechten Bild ein einsamer silberner Stern im Fenster, und KOMÖ ist hinter den Straßenlaternen zu lesen. Unten im Laden gibt es ein Deutsches Reisebüro.
Vielleicht ist alles gut. Die Leute sind in Urlaub gefahren, einfach weg, ans Meer, in den Dschungel oder in die Berge. In eine andere, eine schönere Welt, eine andere, bessere Realität? Als ob es die geben würde. Oder doch? Es gibt viel Licht in Teichmanns Fotografien!

Teichmanns Malerei ist bunt. Leuchtendes Blau, rasant gemalt, stößt auf strahlendes Gelb und wirbelt in grünliches Weiß hinein oder kommt von dort. Vital und kraftvoll ist ihre Malerei, herrlich dramatisch. Schnell, schwungvoll und dynamisch erscheinen ihre Gemälde. Das wirbelnde Weißblau drückt alles Schwarze an die äußeren Ränder. Es ist lebendig.
Es gibt auch sanfte Bilder, wolkig gemalt. Aus blaugrauschwarzem Getöse steigt rosagrau ein Wirbel heraus, bringt einerseits Ruhe ins Bild verdrängt aber auch das leuchtende Weißblau und bringt Düsternis und Dunkelheit.
Ist ein Gemälde authentisch weil ich es so interpretiere und sehe oder weil der Künstler es so gemalt hat? Ist Material authentisch?

Laura Viviana Teichmanns Arbeiten sind nie eindeutig oder klar. Wir Rezipienten bekommen keine Antworten, aber wir sind eingeladen, uns ein eigenes Bild zu machen, eigene Gedanken zu entwickeln und uns mit unserem eigenen Verständnis und unserer eigenen Wahrnehmung ihrer Kunst zu nähern. Ganz authentisch, gemeinsam oder jeder für sich. Ihre Arbeiten regen zum Denken zum Nachdenken an. Das ist ein großes Geschenk, das sie uns macht. Für mich als Künstlerin ist es das Wichtigste, wenn man mit seinen Arbeiten Anregung zum Denken und Nachdenken gibt. In aller Freiheit. So nimmt der Betrachter etwas mit, ist vielleicht erfüllt von seinen eigenen Gedanken.

Wir sind heute hierhergekommen, zu der Künstlerin Laura Viviana Teichmann, haben uns auf den Weg gemacht, ihre Bilder, ihre Kunst anzusehen. Ihre Authentizität zu erreichen, ihre Arbeit zu begreifen. Meine Frage: Authentizität? Warum dieses Wort?
Authentizität?
Wir haben es mit so vielen Eindrücken und Bildern in dieser Welt zu tun, haben so viel zu verarbeiten, dass es wichtig ist, sich mit der Frage nach Authentizität zu beschäftigen. Was ist das Richtige? Echtes von Unechtem zu unterscheiden und als wichtigsten Wert Solidarität zu bewahren, wenn wir uns nicht verlieren wollen.
Danke, Laura Viviana Teichmann.

Käthe Kruse
Berlin, den 24. Februar 2015